Geschichten
Bei privaten wie öffentlichen Märchenabenden erzählt
der Storyguide Volksmärchen und Weisheitsgeschichten, die aus vielen Ländern überliefert sind. Viel Vergnügen mit
dieser kleinen Auswahl, die von Zeit zu Zeit erweitert wird ...
Was ist Musik?
Es wird erzählt, dass Rumi einmal gefragt wurde, was Musik für ihn sei.
Rumi antwortete: "Musik ist das Knarren der Tore des Paradieses."
Da rief einer: "Das Knarren von Toren schmerzt in meinen Ohren und gefällt mir gar nicht."
Rumi antwortete: "Du hörst die Tore, die sich schließen – ich höre die Tore, die sich öffnen."
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Der Schatten
Eines Morgens kroch ein Fuchs in Freie und setzte sich in die ersten wärmenden Strahlen der Sonne.
Er sah seinen Schatten und rief: "Ich bin so hungrig – heute werde ich ein Kamel verspeisen!"
Der Fuchs machte sich auf den Weg und suchte ein Kamel, doch nirgendwo fand er eines.
Als zu Mittag die Sonne hoch am Himmel stand, blickte der Fuchs wieder auf seinen Schatten und sagte: "Ach, eine Maus tut's auch."
(Nach Khalil Gibran)
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Die Flötenspielerin
Da war einmal eine Flötenspielerin, die begann eines Tages, nur noch einen einzigen Ton zu spielen.
Zwanzig Jahre lang spielte sie nur noch diese eine Note. Die Leute kamen und fragten die Frau, warum sie nicht andere Töne
und verschiedene Melodien spielen würde, wie andere Musiker es täten. Die Flötenspielerin antwortete,
es sei nicht ihr Fehler, dass die anderen die Note noch suchen würden, die sie bereits gefunden habe ...
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Der Dattelbaum
Ein mächtiger König wandelte einmal durch sein Reich und sah einen alten Mann mit
gekrümmtem Rücken arbeiten. Der König trat näher und bemerkte, dass der Alte einen kleinen Dattelbaum pflanzte.
Der König rief: "Wie kannst du einen Baum setzen, den du nicht sehen wirst, in dessen Schatten du nie sitzen wirst und dessen
Früchte du niemals essen wirst?" Der Alte schaute auf und sagte: "O König, die, die vor uns kamen, haben gesät,
und wir können ernten. So säen auch wir, damit die, die nach uns kommen, ebenso ernten können."
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Schere und Nadel
Da war einmal ein König, der verehrte den berühmten Scheich Baba Farid und brachte ihm immer wieder Geschenke.
Eines Tages besuchte der König den Scheich und schenkte ihm eine goldene Schere. Baba Farid freilich gab die Schere
dem König zurück und sagte: "Hab Dank für dieses kostbare Geschenk, aber ich möchte es nicht behalten.
Mir wäre es lieber gewesen, Du hättest mir eine Nadel gebracht." "Eine Nadel?", rief der König, "warum eine einfache
Nähnadel und nicht eine Schere?" Baba Farid sprach: "Ich lehre die Liebe. Bring mir keine Schere, bring mir eine Nadel.
Ich zerschneide nicht, ich füge zusammen."
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Die Schnur von König Akbar
Vor langer Zeit regierte der kluge und gerechte König Akbar. An seinem Hofe in Indien lebten Weise und Gelehrte
verschiedenen Glaubens, die aus vielen Ländern kamen. Eines Tages trat der König unter die Männer und Frauen,
legte ein Stück Schnur auf den Boden, zog sie lang und sprach: "Ich habe eine Aufgabe für euch. Macht diese Schnur kürzer –
aber ihr dürft sie nicht abschneiden und nicht verknoten, weder versengen noch zerreißen. Verkürzt einfach die Schnur!"
Alle dachten nach, versuchten dies und jenes, doch niemand löste die Aufgabe. Da holte König Akbar ein zweites Stück Schnur hervor
und legte es neben die erste Schnur. Die zweite Schnur war länger – so war die erste Schnur kürzer geworden ...
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Dschuha und der Rabe
Dschuha kaufte einmal von einem Hirten einen prächtigen schwarzen Raben. Voller Freude trug er den
krähenden Vogel nach Hause. Als die Nachbarn dies sahen, fragten sie: "Warum hast du einen Raben gekauft? Was willst du mit ihm machen?"
Dschuha antwortete: "Die Leute erzählen, dass Raben zweihundert Jahre alt werden. Ich will den Raben aufziehen, um zu sehen,
ob sie die Wahrheit sprechen oder ob sie mich belogen haben!"
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Tee trinken
Ein Schüler besuchte seinen Meister, sie saßen zusammen und tranken Tee. "Meister", fragte der Schüler,
"sage mir, wie finde ich Erleuchtung?" Der Meister blieb eine Weile schweigend sitzen, die beiden tranken in Ruhe ihren Tee.
Dann nahm der Meister die Tasse des Schülers und goss neuen Tee ein. Als die Schale voll war, goss der Meister immer weiter,
der Tee floss über den Rand der Schale zu Boden. "Halt, halt", rief der Schüler, "die Tasse ist voll!" Der Meister sprach:
"Wie willst du Erleuchtung finden, wenn du mit alten Meinungen, Urteilen und Vorhaben gefüllt bist? Werde leer wie die Tasse,
dann findet dich das Neue."
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Das Hemd des Glücklichen
Ein reicher König wurde einmal so krank, dass keine Medizin ihm half, von Tag zu Tag wurde er schwächer.
Die Ärzte ratschlagten und sprachen endlich: "O König, es gibt nur ein Heilmittel, das Euch hilft: Zieht das Hemd eines
glücklichen Menschen an, und Ihr werdet wieder gesund." Sofort sandte der König seine Boten aus, einen Glücklichen zu finden.
Zuerst besuchten sie den höchsten Wesir. "Ich bin nicht glöcklich", bekannte dieser, "lebe ich doch in ständiger Sorge, mein Amt
zu verlieren." Auf dem Bazar traten die Boten unter die Händler, doch diese riefen: "Wir sind nicht glücklich. Unsere Karawanen werden
von Räubern überfallen, Schiffe mit unseren Waren gehen immer wieder im Meer unter, nichts ist sicher." Die Boten wandten sich an den
Kadi, doch der seufzte: "Ach, niemand lässt mich frei urteilen, so viele wollen mich bestechen, statt die Wahrheit zu hören ..."
Sie suchten im ganzen Reich, doch keine Frau und kein Mann nannte sich glücklich. Die einen klagten über dies, die anderen über
jenes, alle über das Wetter, manche über den König. Als die Boten bereits am Heimweg waren, ritten sie über eine Weide,
wo sie einen Hirten singen hörten. Sie kamen näher und lauschten voller Verwunderung dem fröhlichen Gesang des Hirten.
"Du scheinst ein glücklicher Mensch zu sein", sagten sie vorsichtig. "Gewiss", lachte der Hirte, "meine Schafe sind gesund,
die Sonne scheint, die Blumen duften, ich habe gerade Früchte gegessen und Milch getrunken, ich bin zufrieden."
Die Boten wollten sogleich das Hemd des Hirten kaufen und schütteten Goldmünzen vor dem Hirten aus – doch der erstaunte Hirte
wehrte sie ab. Immer mehr Goldstöcke holten die Boten hervor, bis der Hirte endlich seinen Mantel öffnete – und die Boten sahen,
dass der Hirte darunter nichts anhatte. "Ich besitze kein Hemd", sagte er. Als die Boten dies dem kranken König erzählten,
war er am nächsten Morgen wieder gesund.
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Sand und Stein
Zwei Freunde wanderten einmal durch die Wüste. Eines Tages gerieten sie in einen Streit und stritten so heftig,
dass der eine den anderen schlug. Da kniete der Geschlagene nieder und schrieb in den Sand: Heute hat mich mein
bester Freund geschlagen. Danach versöhnten sie sich und gingen weiter. Ein paar Tage später erreichten sie eine blühende Oase
und liefen voller Freude zu dem großen Teich, der unter den Palmen lag. Der, der geschlagen worden war, rutschte aus und fiel ins Wasser.
Es war tiefer, als er dachte, er konnte nicht schwimmen und drohte zu ertrinken. Der Freund hörte die Hilferufe, packte fest zu und
zog ihn heraus. Der Gerettete dankte, ging zu einem Stein und ritzte hinein: Heute hat mir mein bester Freund das Leben gerettet.
Der Freund trat hinzu und fragte: "Warum hast du neulich in den Sand geschrieben, dass ich dich schlug, und schreibst du jetzt auf einen Stein,
dass ich dich gerettet habe?" Der andere antwortete: "Wenn uns jemand verletzt, schreiben wir es in den Sand – der Wind wird es verwehen.
Wenn uns jemand etwas Gutes tut, ritzen wir es in Stein – das lässt der Wind stehen."
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Das Wasser der Unsterblichkeit
Zu König Salomon kam einst ein Bote aus der anderen Welt, reichte ihm einen gefüllten Becher und sprach:
"O König, dies ist das Wasser der Unsterblichkeit. Leere den Becher – du wirst für immer und ewig leben. Weise den Becher
zurück – du wirst wie alle anderen Menschen sterben. Wähle!" Salomon erkannte sofort, dass er des Rates bedurfte, und
ließ die Weisesten und Scharfsinnigsten, Menschen wie Tiere, zusammenrufen. Er zeigte ihnen den Trank der Unsterblichkeit und bat sie
um Ratschlag. Da waren viele herzerwärmende Worte zu hören, alle forderten Salomon auf, den Becher zu leeren.
"Seid ihr alle dieser Meinung?", fragte Salomon in die Runde. Lauter Jubel erklang – aber als es wieder ruhig ward, räusperte sich
der Vogel Reiher: "O König, erlaubt mir, Euch eine Frage zu stellen." Salomon nickte, der Reiher fuhr fort: "Ist dieser Trank
nur für Euch bestimmt – oder auch für alle Eure Lieben und Freunde?" Salomon blickte fragend zu dem Boten, der sprach:
"Dieser Becher ist nur für den König bestimmt." Da sagte der Reiher: "O König, bedenkt, was es heißt, für immer und ewig
ohne Eure Lieben, ohne Eure Freunde zu leben." Alle waren still geworden und blickten voller Staunen von Salomon zum Reiher und vom Reiher
zu Salomon. König Salomon nickte endlich, dankte dem Reiher und gab dem Boten den Becher wieder zurück.
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Der Blinde
Ein Mann war einmal in einer stockfinsteren Nacht unterwegs. Da begegnete er einem Blinden, der eine
leuchtende Fackel trug. "Was nützt dir eine Fackel, die du nicht siehst?", rief der Mann erstaunt. Der Blinde
erwiderte: "Solange ich die Fackel trage, sehen mich die anderen und bewahren mich vor Gruben, Dornen und Disteln."
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Gastfreundschaft
Zu Winterbeginn bat einmal ein Wanderer um Herberge für eine Nacht. Der Hausherr wies ihn ab und sprach:
"Das hier ist kein Gasthaus." "So sag mir aber", fragte der Wanderer, "wer hat vor dir hier gewohnt?" – "Meine Eltern!", gab der Mann zur
Antwort. "Und wer", fuhr der Wanderer fort, "hat vor deinen Eltern in dem Haus gelebt?" – "Meine Großeltern!" "Und wer wird nach dir
hier wohnen?" "Meine Kinder!", erwiderte der Mann. Da sprach der Wanderer: "Wenn jeder nur eine bestimmte Zeit in dem Haus wohnt
und immer einer dem anderen Platz macht, was seid ihr anderes als Gäste? Dieses Haus ist ein Gasthaus."
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